Gesetzlicher Mindestlohn: Fluch oder Segen für die moderne Arbeitswelt?

Gehalt

08.08.2022

Gesetzlicher Mindestlohn: Fluch oder Segen für die moderne Arbeitswelt?

Wird der Mindestlohn zum Jobkiller?

Mit dieser plakativ gewählten These geht am 10.01.2022 ein Beitrag auf tagesschau.de von Lothar Gries online, welcher sich einer Thematik widmet, die bereits im Dezember vergangenen Jahres erheblich für Aufsehen gesorgt hat: die gesetzliche Erhöhung des Mindestlohnes. Bisher lag die Lohnuntergrenze bei 9,82 Euro, ab Juli dieses Jahres stieg sie auf 10,45 Euro an, um ab Oktober ihren neuen Peak zu erreichen: ab dem 01. Oktober 2022 wird der gesetzliche Mindestlohn bundesweit auf 12 Euro erhöht.

Wirft man einen Blick in die Zahlen, so befindet sich Deutschland nach aktuellem Stand auf Platz sechs im Ranking nach Ländervergleich (Stand: Februar 2022). Mit 13,05 Euro steht Luxemburg auf dem unangefochtenen 1. Platz, dicht gefolgt von den Niederlanden und Frankreich. Die kommende Mindestlohnsteigerung wird die Bundesrepublik in hohem Bogen auf Rang zwei zwischen die beiden Vorreiter setzen – Deutschland befindet sich scheinbar geradewegs auf der Überholspur.

Nachdem der Bundestag am 03. Juni 2022 dem neuen Gesetzesentwurf der Bundesregierung final zugestimmt hat, ist zwar eine Änderung beschlossen, die Diskussion um mögliche Auswirkungen jedoch noch lange nicht ad acta gelegt:„Mindestlohn treibt Inflation“ (Focus online), „Landwirte hadern mit steigenden Kosten“ (Südkurier), „Mindestlohn in Deutschland hat die Produktivität gesteigert“ (Spiegel Wirtschaft) – die Schlagzeilen ranken sich kontrovers um unsere Thematik, eine Bilanz scheint schwierig.

Kritische Stimmen zahlreicher Ökonom:innen bangen um die Negativfolgen für die Wettbewerbsfähigkeit von deutschen Unternehmen, da durch angeblich Marktaustritte zahlreiche Beschäftigungen aufgelöst werden müssten. Aus diesem Grund geistert folgende Frage durch aktuelle Massenmedien: Teils konträre Interessen zwischen Unternehmen und Personal ‒ ein gordischer Knoten innerhalb der Wirtschaftspolitik?

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Gesetzlicher Mindestlohn: ein kurzer Blick ins Lexikon

Die gesetzliche Reglementierung, welcher Mindestbetrag sämtlichen Arbeitnehmenden pro Arbeitsstunde ausgezahlt wird, ist durchaus kein alter Hase innerhalb der weiten Welt der Wirtschaft. Ganz im Gegenteil sogar: Beschäftigt man sich genauer mit der Thematik, so wird man mit mehr oder minder großem Erstaunen feststellen, dass sich dieser noch in den Kinderschuhen befindet, denn: Erst seit dem 01. Januar 2015 gilt national ein gesetzlicher Mindestlohn, damals noch auf 8,50 Euro fixiert. Und damit gerade einmal seit sieben Jahren.

Durch das Mindestlohngesetzes (MiLoG) ist von diesem Zeitpunkt an festgeschrieben, dass alle zwei Jahre durch eine neutrale Kommission über die Höhe des zukünftigen Mindestlohns entschieden wird. Die Bundesregierung wiederum wird sich an der Empfehlung dieser Instanz orientieren; zudem kontrolliert der Staat, ob die Lohnuntergrenze auch von sämtlichen Arbeitgeber:innen tatsächlich eingehalten wird.

„Ein Mindestlohn ist ein vom Staat oder von den Tarifparteien festgelegtes Arbeitsentgelt, das den Beschäftigten als Minimum für ihre Arbeitsleistung zusteht“, definiert Dr. rer. soc. Fred Henneberger, Dozent für Volkswirtschaftslehre an der HSG, unsere Thematik im Gabler Wirtschaftslexikon. Ziel des Mindestlohns sei es gemäß der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), ein verbessertes Einkommen für alle Arbeitnehmer:innen zu sichern und ihnen Schutz vor Ausbeutung und Armut zu bieten. Auf diesem Weg soll die Sicherung der eigenen Grundbedürfnisse zuverlässig gedeckt werden. Gleichzeitig sollen auch die Unternehmen vor einem unfairen Wettbewerb geschützt werden – klingt für beide Parteien nach einem fairen Deal, oder etwa nicht?

Ein ewiges Für und Wider

Jeder Eingriff in den Arbeitsmarkt ist sowohl mit Chancen als auch Risiken verbunden. Wirtschaft ist durch verzahnte Mechanismen determiniert, sodass Änderungen oftmals vielschichtige Konsequenzen nach sich ziehen können. Aus diesem Grund sehen wir uns im Folgenden an, welche potenziellen Auswirkungen das Konzept einer neuen Mindestlohnerhöhung sowohl für Personal als auch für Unternehmen hervorrufen könnte.

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Potenzielle Risiken des Mindestlohns

30.12.2021, 11:43 Uhr. Die Tagesschau berichtet in einem Beitrag von der Sorge, des Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger, dass die Mindestlohnerhöhung eine „grobe Verletzung der Tarifautonomie“ darstellt: Deutschlands Arbeitgeber:innen reicht es, sie wollen Klage gegen die neue Erhöhung einreichen. Es wird kritisiert, „dass die Mindestlohnkommission der Wächter des Mindestlohns ist und nicht die Politik", doch sind die Folgen tatsächlich derartig dramatisch für Unternehmen?

Besonders im Handwerk ist das Vorhaben umstritten, Friseur:innen, Bäcker:innen sowie Landwirt:innen schlagen Alarm, denn: ein eine Lohnsteigerung würde simultan zu erheblicher Preissteigerung führen. „Der Trend zu kleineren Betrieben wird sich beschleunigen. Beschäftigung wird weiter abnehmen, ebenso die Ausbildungsbereitschaft", so die Befürchtung des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks. Dies eröffnet die Debatte für die Frage danach, ob eine Erhöhung des Mindestlohnes weitere mögliche Schattenseiten ungeachtet lässt:

  • Schwächung der Tarifautonomie. Wer in welcher Position wie entlohnt wird, ist im gemeinsamen Diskurs zwischen Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenverbänden auszuhandeln. Mit der Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohnes wird die Debattenfreiheit um grundlegende Geschäftsbedingungen wie Tarifverträge eingeschränkt.
  • Abbau von Arbeitsplätzen. So schön ein höherer Mindestlohn auch ist, wenn es Unternehmen nicht möglich ist diesen zu zahlen, müssen Mitarbeiter:innen entlassen werden, um die anfallenden Kosten zu reduzieren.
  • Scheinlösung. Zahlreiche Familien oder Alleinerziehende sind auch nach wie vor auf staatliche Unterstützung angewiesen, da selbst ein erhöhter Mindestlohn oftmals zu wenig ist. Für gänzliche Bekämpfung von Armut sind 2,18 Euro mehr auf dem Konto leider oftmals nach wie vor zu wenig.
  • Ein Zirkelschluss entsteht. Dass Verbraucher:innen mehr Geld verdienen, ist korrekt, allerdings müssen sie um Umkehrschluss auch für private Dienstleistungen tiefer in die Tasche greifen. Ein Kreislauf entsteht, bei dem letztendlich oftmals weniger profitiert wird als ursprünglich intendiert.
  • Ausschluss von Personengruppen. Profitabel ist ein höheres Gehalt erst dann, wenn man es bekommt und nicht nur, indem man davon hört. Letzteres betrifft jedoch einige Ausnahmen, bei denen der gesetzliche Mindestlohn nicht gilt: Pflichtpraktika, im Rahmen einer Berufsausbildung, Jugendliche unter 18 ohne Berufsabschluss, Langzeitarbeitslose, Ehrenämtler:innen.
  • Politisierung und Überbietungswettbewerb. Normalerweise wird der Mindestlohn durch die Mindestlohnkommission aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern vorgeschlagen, allerdings lief die aktuelle Anpassung anders, denn: diese ist durch die Bundesregierung ohne die Kommission etabliert worden. „Die politisch beschlossene Mindestlohnerhöhung stellt einen Bruch mit bislang bewährten und funktionierenden Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft dar", kritisiert Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). Damit läuft diese zukünftig Gefahr, als politisches Instrument und nicht länger ausschließlich zugunsten der wirtschaftlichen Lage von Arbeitnehmer:innen eingesetzt zu werden.

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Das sind die Chancen einer Erhöhung

„Ein armutsfester Mindestlohn ist eine Frage der Leistungsgerechtigkeit und des Respekts vor ehrlicher Arbeit“, meint Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im deutschen Bundestag und referiert auf die vorherrschende Problematik der niedrigen Einkommenshöhe zahlreicher Branchen. Der Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro würde zur Fairness von Arbeitsbedingungen beitragen und „für viele Beschäftigte – vornehmlich Frauen und Ostdeutsche – eine erhebliche Lohnerhöhung bedeuten“, so auch Makroökonom und Mitglied der Mindestlohnkomission Prof. Tom Krebs im Kurzinterview mit dem DGB.

Ein vielgenanntes Hauptargument gegen die Mindestlohnerhöhung waren potenziell negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen. Die Studie des ZEW Mannheim im Auftrag der Mindestlohnkommission selbst beweist jedoch nun Gegenteiliges: weder die Einführung 2015 noch die erste Erhöhung 2017 resultierten in einer drastischen Änderung der Wettbewerbsintensität. „Oft sind es die unproduktiveren Unternehmen, die den Markt verlassen. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte jedoch nicht beobachtet werden. Solange die Arbeitsnachfrage hoch ist, finden die betroffenen Arbeitnehmer:innen bei anderen Unternehmen eine Folgebeschäftigung“, so Moritz Lubczyk, Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich „Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik“ am ZEW und Co-Autor der Studie. Die ausbleibende Befürchtung war allerdings nicht das einzige Ergebnis, denn ein weiterer Fakt wurde bestätigt, welcher direkt den ersten Vorteil des Mindestlohns darstellt:

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  • Effizienteres Arbeiten. Gemäß der Studie des ZEW folgt eine gesteigerte Arbeitsproduktivität, somit erhöhter Umsatz im Verhältnis zum eingesetzten Personal, denn: „Wenn vor allem weniger produktive Unternehmen aus dem Markt austreten, dann steigt die durchschnittliche Produktivität der gesamten Branche.“
  • Existenzsicherndes Einkommen. In zahlreichen Berufen herrscht nach wie vor Ungerechtigkeit innerhalb der Bezahlung vor; die Folge: Arbeiten lohnt sich für manche Menschen kaum, da die Lebenserhaltungskosten einfach nicht allein stemmbar sind. Eine Erhöhung des Grundeinkommens wirkt sich daher positiv auf die Bevölkerungsgruppen aus, welche mehr finanzielle Mittel benötigen, ohne jedoch die zeitlichen Kapazitäten zu haben, ihr Arbeitspensum noch weiter anzuheben.
  • Armutsschutz. Durchschnittlich verdienen deutsche Arbeitnehmer:innen 49.200 Euro brutto pro Jahr, davon können zahlreiche Arbeitnehmer:innen allerdings nur träumen. Ein gesetzlicher Mindestlohn schützt vor Armut trotz Vollzeitbeschäftigung, ohne dass eine Ergänzung durch staatliche Fördermittel nötig wird.
  • Bürokratieabbau. Je weniger finanzielle Hilfestellung geleistet werden muss, desto mehr Entlastung resultiert für die Staatskassen. Wer selbst für seine Existenz sorgen kann, ist nicht angewiesen auf Förderung von außen, was wiederum für mehr Selbstbestimmtheit seitens Arbeitnehmer:innen sorgt.
  • Motivation. "Geld erzeugt nicht notwendigerweise Motivation, aber wenn die Bezahlung nicht stimmt, kann Demotivation entstehen", so Psychologieprofessorin Maika Rawolle von der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung berichtet sie, dass nicht die Summe des Gehalts per se entscheidend sei, sondern der Vergleich. Wenn Lohn und Leistung einander angenähert werden, so wirkt sich dies positiv auf die Motivation des Personals aus.

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